Orientierung ’22

Ich laufe viel durch diese Stadt, sie ist wieder ansehnlich, ja attraktiv geworden. Aber Bauwerke und Denkmäler sind nicht alles. Auch der Geist, das alltägliche Leben, also die Ausstrahlung der hiesigen Menschen bilden die öffentlich wahrgenommene Basis des Hier und Jetzt!

Im Zusammenhang mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine (s. a. Moment wie ’89) am 24.02.2022 brach sich auch die schon vor Jahren von den Stralsundern debattierte Frage nach der Perspektive des Monumentes am Neuen Markt wieder Bahn. Ich finde dies folgerichtig, denn es wird aktuell an diesem Platz gebaut. Es mag ein jeder seine Meinung dazu haben, und auch kundtun. Die Befürworter haben sich zum Zeitpunkt der Projekteröffnung durchgesetzt und entschieden: Es bleibt!

Dennoch ist es immer wieder richtig zu fragen, ob unsere Vorbilder und Leitwerte aus der Vergangenheit bestand haben. Und ich meine, spätestens jetzt muss auch noch einmal zu diesem Monument debattiert werden. Dies geschah in den Ausgaben der Ostsee-Zeitung vom 09.03. und 10.03.2022. Was ich las, hat mich ziemlich verwundert. Es gab nur Befürworter! Das kann aber nicht sein, denn ich kenne auch die ablehnenden Stimmen! Ich selbst kann einem sowjetischen Ehrenmal an dieser Stelle nichts abgewinnen und würde es entfernen.

Ist sich denn niemand mehr dessen bewusst, dass Russland mit denselben Mitteln aus Gewalt und Angst wie zu Zeiten des Kalten Krieges gegen die Ukraine vorgeht? Dass Russland an die Stelle der Sowjetunion getreten ist, muss niemand erwähnen, es gilt als selbst bekundend überliefert. Ukrainer, die wir in ihrer Not unterstützend in unserer Stadt aufnehmen, würden doch sofort Heuchelei annehmen müssen. Und das wäre es auch, was denn sonst!

Wir, die Älteren, wissen doch was 1953, 1956, 1968 im Ostblock geschah! Es gehört bitte auch zu unserer Geschichte. Die Sowjetarmee war nicht nur der Befreier von der Nazidiktatur – sie hat auch ein neues Gewaltregime errichtet, dass 1989 zu einem Teil eingestürzt ist. Wir kennen doch die Stimmen aus den ehemals von Russland besetzten Gebieten des Ostens, die sich seit dieser Zeit tatsächlich befreit haben, nun tun es die Ukrainer. Wer hätte dafür kein Verständnis und keine Sympathien?

Ich muss annehmen, die Ostsee-Zeitung hat nicht repräsentativ aus den Zuschriften ausgewählt. Das ist eine Annahme, aber andernfalls wäre es eine ebenso erschreckende Erkenntnis.

Ingo Küster, 10.03.2022