Wellengang

Im Dezember letzten Jahres besuchten wir die Meisterausstellung in der „Galerie im Wintergarten in der Goldschmiede Stabenow“. Unter den wie immer großartig gearbeiteten Schmuckstücken von aktuell 5 Goldschmieden gab es dieses Mal eine Besonderheit. Und zwar haben Susanne Struck, Isaac Ben Maati sowie Marit Müller eine neue Kollektion kreiert, die sie „Wellengang“ genannt haben. Dieser Name ist wirklich zutreffend, denn das oberflächliche Design aller in Silber hergestellten Stücke weist feine geschwungene Linien auf, die wir von unseren heimischen Badestränden kennen. Die Wellen des ans Ufer brechenden Wassers bilden im Sand ebenfalls diese kleinen hügeligen parallelen Strukturen, die beim Baden an den Füßen zu spüren sind. Sie folgen immer einem erkennbaren Muster, sind aber eigentlich an jeder Stelle von Einmaligkeit geprägt.

Wie nun diese Schmuckstücke entstehen, interessierte mich sofort. Ich verabredete mich mit den Goldschmieden in deren Werkstatt. Was ich gesehen und gehört habe, verblüffte mich auf zweierlei Art. Zum einen handelt es sich bei der Herstellung um eine Technik, die bereits aus der Antike bekannt ist. Nämlich der Formguss mittels „Ossa Sepia“, dem Rückenknochen einer spezifischen Art verendeter Tintenfische. Isaac zeigte mir die Vorbereitung einer solchen Form. Die innere Struktur des abgeschliffenen Materials wies eben genau diese parallel verlaufenden Wellenstrukturen auf, die sich später beim Silberguss in das Gussstück übertragen.

Neben der Herstellungstechnologie ist aber auch die Inspiration der Schöpfer bemerkenswert. Es ist bekannt, dass C. Stabenow seit jeher den berühmten und gern gekauften Hiddenseer Goldschmuck in handwerklichem Nachbau produziert. Und hier verbanden die Goldschmiede die neue Kreation mit den Mythen und Erzählungen des Hiddenseer Goldschmucks. Denn die Originalstücke des Goldschmuckes wurden am Strand von Hiddensee gefunden, also am Wassersaum, der die charakteristische Wellenform im sandigen Grund bildet. Diese maritime Gemeinsamkeit verbindet beide Kollektionen, sie ergänzen sich und bilden nun zwei korrespondierende Pole handwerklicher Kunst aus der Werkstatt C. Stabenow.

Ingo Küster, März 2023