施特拉尔松德 — 上海
Oktober 2019
Sharon, Giselas Freundin aus Shanghai, hat Stralsund in diesem Jahr wieder besucht, nur eine Woche, aber was bedeutet das schon. Beide erzählen eine sich um unsere Stadt drehende Geschichte der Verbundenheit, die vor einem Jahr seinen Anfang nahm.
An dem lauten Applaus von Sharon bei Isabelles Lesung ist mir noch einmal ganz deutlich geworden, was ich schon mit Babette erlebt hatte: Wenn man zum ersten Mal nach Stralsund kommt, wird man freundlich empfangen. Beim zweiten Mal gehört man dazu, ist sozusagen „Part of the Family“.
Bei ihrem ersten Besuch in Stralsund im Herbst 2018 hat Sharon bei uns ihr geheimes Paradies, oder wie die Chinesen sagen: ihren Pfirsichblütenhain gefunden. Um noch besser mit uns reden zu können, hat sie am Goethe-Institut in Shanghai einen Deutschkurs belegt. Und immer, wenn sie vor lauter Stress in ihrem IT-Job gar nicht mehr wusste, wo ihr der Kopf stand, hat sie im Internet Flüge nach Stralsund gesucht und sich so im Kopf in unsere Hansestadt versetzt, um wieder neuen Mut zu fassen für das rastlose Leben in Shanghai.
Und sie ist wiedergekommen. Vom 6.-12. Oktober hat sie ihren Jahresurlaub in Stralsund verbracht, wo sie uns auch in diesem Jahr wieder mit ihrem Charm und ihrer Fröhlichkeit verzaubert hat. Sie selbst schreibt dazu:
Ich sitze schon im Flieger, hat alles prima geklappt. Meine Batterien sind wieder voll aufgeladen; mit der Power aus Stralsund fliege ich zurück, um weiter zu kämpfen im großen Shanghai.
Das Leben ist so schön. Hab den Austausch mit den Freunden in Stralsund so genossen. Diesmal war es ganz anders als letztes Jahr: Ich hatte das Gefühl, dass ich in Stralsund in meine zweite Heimat gekommen bin.
Als sich beim Abschied am Bahnhof der Zug in Bewegung setzte, wären mir um ein Haar die Tränen gekullert. Ich bin so glücklich, dass ich diesen geheimen Pfirsichblütenhain haben darf.
Und aus Shanghai schrieb sie nach ihrer Heimreise:
Nach meinem Urlaub in Stralsund ist mein Kopf frei, die Gedanken sind klar und ich fühle mich super! Nach einer Woche Ferien habe ich so viel nachzuarbeiten, dass mir gar keine Zeit bleibt, an den weiten Himmel über der Ostsee oder an meinen Jetlag zu denken. Ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist; ich betrachte es einfach mal als etwas Gutes.
Zufällig fiel Sharons Reisetermin mit dem Besuch von Isabelle Gendre aus Zürich zusammen. Isabelle war auch gekommen, um Lesungen zu ihren Büchern abzuhalten. Bei den Vorbereitungen zu Isabelles Lesung in Stralsund hat Sharon tatkräftig mitgewirkt. Dies kommentierte sie an ihre Freunde:
Inzwischen lebe ich hier schon ganz wie eine Einheimische, ich kenne mich aus in der Altstadt mit all ihren Ecken und Winkeln, gehe zum Fischladen und kaufe Hering, helfe in der Küche, schleppe Stühle, lege Tischdecken auf . . .
Doch dann konnte die junge Shanghaierin, die zuhause Lebensmittel nur noch über das Internet bestellt und kein Bargeld mehr benutzt, es kaum glaube, dass wir für Isabelles Lesung Einladungen aus Papier in reale – nicht digitale – Briefkästen gesteckt haben. Und bei einem Spaziergang nach Parow hat Sharon zum ersten Mal in ihrem Leben einen Apfelbaum gesehen.
Wir denken an sie, die jetzt wieder unter einem so ganz anderen Himmel lebt und freuen uns schon auf ihren Besuch im nächsten Jahr!
Gisela Reinhold
Februar 2019
Drei Jahre habe ich gebraucht um Frank Cao, den Generalssekretär von GASME (Global Alliance of SMEs), an den Sund nach Stralsund zu locken. Frank ist ein global denkender Geschäftsmann aus Shanghai, der nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Kanada 2003 in Shanghai die multinationale Nichtregierungsorganisation GASME gegründet hat. Die Mission von GASME ist der Aufbau einer globalen Plattform, auf der kleine und mittlere Unternehmen (englisch: SME) sich weltweit vernetzen, um uns allen durch ihre Zusammenarbeit eine bessere Zukunft zu ermöglichen (build a global cooperation platform for a greater future). Konkret setzt sich diese Plattform aus einer Vielzahl von Einzelprojekten in vielerlei Formaten zusammen: Internationale Konferenzen wie die World Manufacturing Conference oder der World Congress of Acupuncture-Moxibustion; Summer Camps, bei denen Jungunternehmer sich mit einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik und Wirtschaft austauschen können, aber auch die Anbahnung von Kooperationen zwischen kleinen und mittleren Unternehmen aus China und allen anderen Teilen der Welt. In China sind 4.800 kleine und mittlere Privatunternehmen sowie 500 Handelskammern Mitglieder von GASME. 2012 wurde GASME von der UNIDO (Organisation der Vereinten Nationen für industrielle Entwicklung) als Anerkennung für die hervorragende Arbeit und die Erfolge bei der Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen der Beraterstatus (consultative status with UNIDO) verliehen.
Auf Franks mentaler Landkarte war Stralsund bis zum Februar 2019 nicht vorhanden. Die vielen Fotos, die ich ihm von der Altstadt und der schönen Landschaft hier geschickt habe, haben daran nichts geändert. Von seinem Shanghaier Büro aus waren in Deutschland nur Berlin, Hamburg und München interessant. Eine Einladung der Kanzlerin zum traditionellen Neujahrsempfang in Stralsund hat das schlagartig verändert. Frank hat eine Reise von Shanghai nach Stralsund gebucht und herausgefunden, dass in der einst mächtigen Hansestadt im Mittelalter einmal das höchste Gebäude der Welt stand und dass Stralsund aufgrund seiner geographischen Lage ein ideales Tor in die Ostsee mit ihren vielen Anrainerstaaten ist.
Während seiner drei Tagen in Stralsund hat Frank, auf allen Ebenen gut vorbereitet, viele interessante Gespräche über mögliche Kooperationen geführt und sehr konkrete Angebote gemacht, wie er Stralsunder Unternehmen dabei helfen kann, auf dem chinesischen Markt bekannt zu werden.
Und er hat gesehen, dass man in dieser Stadt, die er bis zu seiner Reise hierher nicht kannte, ganz wunderbar leben kann.
Frank ist ein Hundenarr und hat in Shanghai vier kleine Hunde — große Hunde sind in dieser Metropole mit ihren 25 Mio. Einwohnern nicht erlaubt. Bei einem Spaziergang auf der Promenade hat Frank mit vielen Vierbeinern Freundschaft geschlossen und war begeistert von dem vielen Auslauf, den die Tiere hier haben.
Als er heute ins Flugzeug zurück nach Shanghai stieg, bedankte Frank sich ganz herzlich für die drei wundervollen Tage und das tolle Programm hier in Stralsund.
Er sagte, es werde nun eine neue Seite in der Zusammenarbeit zwischen Stralsund und China aufgeschlagen. Er werde uns, seine Gastgeber, nicht das Gesicht mit leeren Versprechungen verlieren lassen.
An einer Sache müssten wir allerdings noch arbeiten: Die 8 – 9 Stunden Flugzeit für einen Direktflug von Peking, Shanghai oder Hongkong nach Kopenhagen sind für Chinesen sehr akzeptabel. Dass man dann aber für die 100 Kilometer Luftlinie von Kopenhagen, dem Stralsund am nächstgelegenen internationalen Luftkreuz, bis nach Stralsund noch einmal genau so lange braucht, ist Chinesen nur schwer zu vermitteln. Wenn wir die Reise vom Flughafen Kopenhagen nach Stralsund, zum Beispiel mit einem Wasserflugzeug oder einem Schnellboot, deutlich verkürzen könnten, wäre dies ein ganz großes Plus für unsere Region.
Und: Die offizielle chinesische Übersetzung von Stralsund: Shi-te-la-er-song-de (施特拉尔松德)ist viel zu lang; kein Chinese kann sich diese sechs Schriftzeichen merken. Frank schlägt daher eine Verkürzung auf Shi-la-song(施拉松)vor.
Frank hat uns wie versprochen sehr schnell seinen Reisebericht geschickt, den wir an dieser Stelle gerne einfügen:
Stralsund als lebendiges Beispiel für eine gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China
Meine Reise nach Stralsund
Am 22. Februar war ich zum traditionellen „Neujahrsempfang“ von Bundeskanzlerin Merkel in die Alten Brauerei nach Stralsund eingeladen.
In den letzten zwei Jahren hat mir meine deutsche Freundin Gisela Reinhold immer wieder wunderschöne Fotos geschickt, um mir Stralsund vorzustellen. Und so habe ich schließlich damit angefangen, mich mit dieser Stadt zu beschäftigen. Gisela lebte ursprünglich in Berlin und ist dann vor neun Jahren nach Stralsund gezogen. Giselas Erzählungen und meine nachfolgenden Recherchen im Internet haben mich in tiefes Erstaunen versetzt, denn ich hätte nie gedacht, dass Stralsund eine so besondere Stadt ist: Stralsund wurde vor 785 Jahren gegründet, war Mitglied der Hanse und einst befand sich hier das höchste Gebäude der Welt. Und Stralsund ist ein Tor in den Ostseeraum.
Schon gleich nach meiner Ankunft am Bahnhof hat mich der Charme der malerischen Altstadt in seinen Bann gezogen – die sauberen Straßen aus altem Kopfsteinpflaster, hoch in den Himmel hinauf ragende Kirchtürme aus rotem Backstein, wie Patchwork aneinander gereihte bunte Häuser, der sich blau schimmernd vor meinen Augen ausbreitende Sund, die weißen Schiffe im Hafen . . . es war einfach atemberaubend. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Im Himmel gibt es das Paradies, und auf Erden gibt es Suzhou und Hangzhou.“ Dieses Sprichwort preist die Schönheit dieser beiden chinesischen Städte, aber im Vergleich mit ihnen ist Stralsund von geradezu märchenhafter Schönheit, die einem sofort das Herz öffnet. Eine Schönheit, die sich aus der gelungenen Verbindung von Mensch und Natur herleitet. Ja, Stralsund ist wirklich ein Paradies auf Erden!
Stralsund ist auch der Wahlkreis von Angela Merkel, und es war mir eine große Ehre, zu ihrem Neujahrsempfang nach Stralsund eingeladen zu werden, bei dem ich sehr deutlich spüren konnte, wie pragmatisch und bodenständig doch die Deutschen sind.
Ich war davon ausgegangen, dass das Gelände um die Alte Brauerei hermetisch abgeriegelt wäre und es überall nur so wimmele von Sicherheitskräften. Dass die Gäste die gleiche Sicherheitskontrolle wie am Flughafen über sich ergehen lassen müssten . . . doch dann, ich hatte mich total geirrt, es war alles ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte.
Ich habe nicht ein Polizeiauto auf dem Gelände gesehen, nur einen Beamten, der den Gästen Parkplätze zuwies. Es gab auch keine Sicherheitskontrolle am Eingang. Mein Pass und das Einladungsschreiben genügten, um in den Saal zu kommen, wo eine freundlich lächelnde Mitarbeiterin mir meinen Mantel abnahm und zur Garderobe brachte.
Nach etwa einer halben Stunde waren alle der etwa vierhundert Plätze besetzt und ich sah, wie Frau Merkel, nicht im Abendkleid, sondern ganz unauffällig gekleidet, in der Begleitung von Oberbürgermeister Dr. Badrow den Saal betrat und sich in einer unauffälligen Ecke zu den Gästen setzte. Es gab keinen Ehrentisch mit einem riesigen Plakat im Hintergrund und erst recht keine LED-Leinwand; lediglich ein Dia-Projektor projizierte ein Bild an die Wand. Schon nach kurzer Zeit ging Frau Merkel ganz allein zum Rednerpult; sie wurde weder von den in China üblichen Hostessen dorthin geleitet, noch war sie von Sicherheitsbeamten umgeben. Es gab auch keinen Moderator, der die Redner ankündigte. Frau Merkel verkündete einfach den Beginn der Veranstaltung, danach betrat eine Sopranistin die Bühne, die Klavierbegleitung erklang . . .
Die Rede von Frau Merkel war die letzte im Programm und nachdem sie geendet hatte, begann das Essen. Es war als Buffet organisiert und ich sah, wie Frau Merkel selbst mit einem Teller von Stand zu Stand ging und sich etwas aussuchte, ganz so, als ob sie ein ganz normaler Gast wäre. Nach dem Essen setzte sie sich zu verschiedenen Gästen mit an den Tisch, um mit ihnen zu reden und ihre Meinungen zu hören. Frau Merkels pragmatischer und unprätentiöser Stil hat mich tief beeindruckt.
Seit zwanzig Jahren habe ich das Amt des Generalsekretärs von GASME (Global Association of SME) inne. Die Einzigartigkeit der schönen Stadt Stralsund und die Bodenständigkeit der Deutschen haben in mir etwas ausgelöst, dass ich nur schwer unterdrücken kann – so dass ich mich jetzt mit voller Kraft dafür einsetzen will, dass diese Stadt wieder zu ihrer alten Blüte zurückfindet. Durch die Vermittlung von Gisela und ihren Freunden war ich in der alten Hafenkneipe „Zur Fähre“, auf Rügen durfte ich die Insel-Brauerei und die Wasserferienwelt „Im-Jaich“ besuchen, im Stralsunder Umland lernte ich die Dragonwood GmbH und ScanHaus kennen.
Als Ergebnis meiner drei Tage in Stralsund, in denen ich auch ein intensives Gespräch mit Oberbürgermeister Dr. Badrow führen durfte, habe ich die nachfolgenden Ideen für gemeinsame Projekte mit Stralsund angedacht:
- Die Insel-Brauerei auf Rügen ist eingeladen, sich an der 2. „China International Import Expo (CIIE) im November in Shanghai zu beteiligen. Auch in China weiß man, dass das Bier in Deutschland erfunden wurde und immer noch das beste Bier der Welt ist. Die Biere aus der Inselbrauerei sind ganz besonders hochwertige deutsche Biere, was auch die über zehn Goldmedaillen belegen, die diese Biere auf internationalen Wettbewerben gewonnen haben. Wir planen, Insel-Bier als Getränk im Luxussegment in ausgesuchten 5 Sterne Hotels und Privatclubs zu etablieren.
- Für die großen chinesischen Städte (first tier, second tier cities) wird die Eröffnung einer Kette von deutschen Bierkneipen unter dem Namen „Hanni“ geplant. Hanni Höpner ist die Inhaberin der Stralsunder Kneipe „Zur Fähre“, die eine so besondere Atmosphäre hat, dass Frau Merkel immer wieder mit ihren Gästen, Staatsoberhäuptern aus ganz Europa, dort einkehrt. In den Hanni-Kneipen in China könnten dann auch ganz normale Chinesen das hervorragende deutsche Bier und die deutsche Bierkultur kennen lernen. Ziel ist es, jede Hanni-Kneipe zu einem Ort des Austauschs zwischen China und Deutschland zu entwickeln, wo man in lockerer Atmosphäre sowohl seine Geschäftspartner als auch seine Freunde treffen kann.
- Eröffnung eines Yang Jizhou Zentrums für TCM, Akupunktur und Moxibustion in Stralsund – Einführung der Produkte und Praktiken der in China hoch angesehenen Akupunktur nach Yang Jizhou. Hierfür entsendet die Dragonwood GmbH in Klein Kordshagen Akupunkteure zum Studium der Yang Jizhou Akupunktur nach Quzhou.
- Erschließung eines chinesischen Marktes für Fertighäuser aus Deutschland. Da Fertighäuser umweltfreundlich und energie-effizient sind, ist der Bedarf nach solchen Häusern in China riesig. Deutschland besitzt die Marke, die Technologie und die personelle Expertise. China hat den Markt, das Kapital, Arbeitskräfte und Rohmaterial. Wenn beide Seiten hier zu einer Kooperation finden, kann das eigentlich nur zu einer Win-Win-Situation führen.
- In Stralsund wird die Errichtung eines „Ausstellungs- und Handelszentrums für chinesische Produkte“ (China Commodity Display and Trading Center“) geplant, das Stralsund als wichtigen Knotenpunkt der Neuen Seidenstraße (One Belt One Road) etabliert. Stralsund wäre damit für acht Ostsee-Anrainerstaaten das Tor nach China — sowohl für den Import von chinesischen Produkten als auch für den Export ihrer eigenen Produkte nach China. Damit würde Stralsund wieder die Rolle spielen, die es als mächtige Hansestadt schon einmal inne hatte. Für den Oktober 2019 ist eine Konferenz in Stralsund zu diesem Projekt angedacht.
- Eine Unternehmerdelegation unter Leitung von Oberbürgermeister Dr. Badrow wird zur Teilnahme an der „2. World Manufacturing Conference“ vom 21.-23. September in Hefei eingeladen, um dort die Kooperation von Stralsunder und chinesischen Unternehmen weiter voranzutreiben.
Angesichts all dieser vielen neuen Ideen denke ich, dass der chinesische Name von Stralsund zu lang und für Chinesen nur schwer zu behalten ist. Damit man sich in China besser an diese schönen Stadt erinnert, habe ich mit Oberbürgermeister Dr. Badrow darüber gesprochen, ob wir den chinesischen Namen von Stralsund nicht in das einprägsamere „Shi-la-song“ ändern.
Zum Abschluss möchte ich noch einmal betonen, wie gut es mir in Stralsund gefallen hat. Ich habe so eine Vorahnung, dass Stralsund sich für GASME zu einer wichtigen Basis für die Zusammenarbeit in Europa entwickeln wird – ein lebendiges Beispiel für eine gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und China.
Der Reisebericht wurde aus dem Chinesischen von Gisela Reinhold übersetzt.
Soweit der Reisebericht von Frank, den wir im Original auch auf unserer chinesisch-sprachigen Seite eingestellt haben. Eine chinesische überregionale Zeitung hat in großer Aufmachung ebenfalls über die Reise von Frank nach Stralsund berichtet.
Gisela Reinhold
September 2018
Unsere guten Kontakte nach China führten im Laufe des Jahres 2018 erneut zu einer sehr herzlichen Bekanntschaft – hier in Stralsund. Die Vorgeschichte dazu beschreibt Gisela:
Ich habe Sharon 2015 kennengelernt und dann zwei Jahre lang eng mit ihr zusammen gearbeitet. Gemeinsam haben wir den Besuch hochrangiger Delegationen nach China und Deutschland vorbereitet und sie dann Vorort begleitet. Neben den ganzen Details dazu habe ich Sharon in unseren unzähligen WeChat-Nachrichten auch immer wieder Fotos von meinem entspannten Leben an der Ostsee geschickt – das so ganz anders war als ihre überlangen Arbeitstage in der Megametropole Shanghai. In Deutschland ist es möglich, die Fußläufigkeit der UNESCO-geschützten Altstadt von Stralsund mit einem anspruchsvollen, international ausgerichteten Job zu vereinen. In China geht das nicht. Wer sich entwickeln will, muss in Peking oder Shanghai leben. Aussteiger, die versucht haben, sich im idyllischen Yunnan ein entspanntes Leben mit bezahlbaren Mieten und guter Luft zu organisieren, kommen meist schon sehr bald wieder zurück, da sie abseits der großen Metropolen nicht genug Geld für ihren Lebensunterhalt verdienen können. In Shanghai zu leben, bedeutet soziale Anerkennung, Zugang zu Bildung und Kultur und der ganzen glitzernden Vielfalt einer internationalen Metropole.
Es gibt alles in Shanghai – und doch hat sich Sharon aufgemacht auf die lange Reise nach Stralsund und ich war sehr gespannt, wie eine 25-jährige Shanghaierin auf unsere Stadt reagieren würde. Hier also ihr Bericht, den wir von ihr erhalten haben.
Sharon, die ihre Reise nach Stralsund im September machte und für eine Woche blieb, schrieb:
Gisela hatte mir viele Fotos geschickt, von der Segelregatta auf dem Sund und dem Weihnachtsmarkt vor dem Stralsunder Rathaus. Sie schrieb mir, wenn sie morgens ihren Espresso trinkt und E-Mails beantwortet, kann sie vom Bett aus die Sonne über dem Sund aufgehen sehen. Sie hätte hier in der Altstadt von Stralsund ihren Pfirsichblütenhain* gefunden. Ob ich sie nicht mal besuchen wollte in ihrer Ostsee-Idylle.
Ich hab ihr das alles nur so halb geglaubt, war skeptisch, dass es so etwas geben kann. Und im Sommer 2018 bin ich dann zu ihr nach Stralsund gefahren.
Ich lebe in Shanghai – einer Stadt, die pulsiert und nur so strotzt vor Vitalität. Die U-Bahn ist immer voll und durch die Straßen zieht sich zu jeder Zeit das glitzernde Band der Autos. Wenn die großen Shopping Malls um 22 Uhr schließen, blinken an fast jeder Ecke noch immer die Neonlampen der 24/7 Shops, die rund um die Uhr geöffnet sind. Wie das deutsche Hamburg ist auch Shanghai die zweitgrößte Stadt des Landes, ein Handels- und Finanzzentrum. Mein Leben dort ist an jedem Tag total durchgetaktet. Immer gibt es etwas zu tun, das sofort erledigt werden muss. Ein Problem taucht auf, ich löse es, – juju – und dann kommt schon wieder die nächste kleine Katastrophe auf mich zu. Ich fühle mich dabei nicht schlecht; die Tage sind voll von dieser nicht enden wollenden Dynamik – mit der ich täglich so viele kleinere und größere Katastrophen vermeide.
Es war an einem Freitag, um 22:30 Uhr in Shanghai. Ich hatte eine dicke Erkältung, war den ganzen Tag geschäftlich unterwegs gewesen, von einem Termin zum nächsten gerannt. Als ich abends völlig erschöpft auf mein Sofa fiel, begann mein Handy zu vibrieren, gleich zweimal hintereinander. Ich hätte es am liebsten aus dem Fenster geschmissen … einmal dieser Welt entfliehen und nicht mehr funktionieren müssen! Und dann poppte plötzlich Stralsund in meinem Kopf auf: „Es reicht! Ich verdiene mir jetzt eine Stange Geld und dann fahre ich im nächsten Jahr nach Stralsund! In meinen Pfirsichblütenhain!“ Mit dieser Entscheidung habe ich mir dann wieder Mut gemacht, mein verkniffenes Gesicht hat sich entspannt und ich habe die Messages auf meinem Handy beantwortet.
Ich habe wirklich Glück: Ich liebe die Stadt, in der ich wohne. Und ich habe einen Pfirsichblütenhain, ein geheimes Fleckchen Erde, das still leuchtet und jedes Jahr zur Ferienzeit auf mich wartet.
Shanghai und Stralsund sind zehntausend Kilometer voneinander entfernt und natürlich fühlt sich das Leben in diesen beiden Städten ganz unterschiedlich an. Hier einige Beispiele:
Da ich ja das erste Mal in Stralsund war, ist Gisela mit mir kreuz und quer durch die Altstadt gelaufen, um mir alles zu zeigen. Dabei haben wir auch zwei ihrer Freunde getroffen, die gerade auf der Terrasse eines Straßencafés saßen. „Trinkt Ihr einen Kaffee mit?“ fragten sie uns und so saßen wir – zwei Deutsche, ein Schwede und eine Chinesin zusammen um einen Tisch und haben uns kennengelernt und über Gott und die Welt geredet – einfach so, ganz spontan und ohne Verabredung. In Shanghai versuche ich seit einem Monat, mich mit einer Freundin zu verabreden, aber wir finden einfach keinen Termin, an dem wir beide Zeit haben. „Nun wohnen wir schon so nah beieinander und schaffen es trotzdem nicht, uns zu treffen“ sagt sie immer wieder.
Als wir am Abend mit einigen Freunden im Bürgergarten saßen, sagte einer plötzlich, dass er demnächst nach Stockholm fahre, um einen Bagger zu kaufen und noch jemanden suche, der ihm beim englisch Reden hilft. Sofort sagte jemand: „Ich kann das machen – ich fahre mit.“ Und schon war das Problem gelöst. Ein andermal trafen wir auf unserem Spaziergang durch die Altstadt einen Architekten. Er hatte eine E-Mail mit einer Projektanfrage noch nicht beantwortet, daher sind wir zu ihm hingegangen und haben bei einem zufälligen Treffen auf der Straße alles geklärt. Ich schaue auf die chinesischen Visitenkarten vor mir – von Kollegen, Freunden und Nachbarn – und muss grinsen: In Stralsund geht man nur vor die Tür und schon trifft man Freunde, kriegt Jobs – und alle Probleme scheinen sich von selbst zu lösen.
Wer in Shanghai so leben wollte, wäre wohl sehr schnell von akuter Finanznot betroffen. Hier eilen die Leute mit gesenkten Köpfen durch die Straßen; und selbst, wenn man einen Bekannten trifft, hat man immer nur Zeit für ein paar schnell hingeworfene Worte, bevor man weiterläuft. Um mit diesem schnellen Rhythmus in Shanghai mithalten zu können, muss man innerlich andauernd sortieren: Wichtigkeitsgrad? Dringlichkeitsgrad? Unsere Gehirne sind bis zum Anschlag gespannt. Uns fehlt die Lässigkeit. Andauernd planen und organisieren wir uns.
Als ich die Street Art Galerie auf der Hafeninsel betrat, waren meinen ersten Gedanken: 500 Quadratmeter Fläche – nach Shanghaier Maßstäben gerechnet wären das bei einer Miete von einem Euro pro Tag insgesamt 500 Euro Miete am Tag. Die Monatsmiete läge bei 15.000 Euro. Wie viele Bilder müssen sie verkaufen, um ihre Kosten reinzuspielen? Wie hoch sind die Personalkosten? Es war Nachsaison und ich sah kaum Besucher – so richtig toll könnten die Einnahmen nicht sprudeln.
Meine Gedanken fliegen nach Shanghai – in das Hochhaus, in dem ich arbeite. Beste Adresse am Bund, dem Prachtboulevard von Shanghai. Die Büromiete liegt bei 1,50 Euro pro Quadratmeter pro Tag. Unsere Firma arbeitet im Bereich „Blockchain“, künstliche Intelligenz, Big Data – alles Bereiche, in denen man viel Geld verbrennen kann. Von den Mitarbeitern wird erwartet, dass ihre Arbeitsleistung deutlich über dem durchschnittlichen IT-Niveau in China und auch über dem Durchschnittsniveau in Shanghai liegt. Jeden Tag denkt mein Chef darüber nach, wie er unnötige Kosten einsparen kann. Wieviel müssen wir einspielen, um in die Gewinnzone zu kommen? Was bedeutet das für die Zielvorgaben, die jeder einzelne am Tag erreichen muss? Jeden Monat müssen die Gehälter die Miete gezahlt werden. Dazu der Druck aus dem Vorstand und von den Aktionären … .
„In diesem alten Speicher haben sich verschiedene Künstler zusammen getan und einen Laden für Kunst und Kunsthandwerk gegründet. Sie wechseln sich ab mit der Arbeit im Laden; jeder ist dann auch für den Verkauf der Arbeiten der anderen mit verantwortlich. Nebenan in der Galerie gibt es ein kleines Kino. Jeder Galeriebesucher kann dort umsonst Filme gucken“ sagt mir Gisela und reißt mich aus meinen Träumereien. Ja, ich bin in Stralsund. Vielleicht müssen sie hier nicht so viel Miete zahlen und machen das gar nicht, um Geld zu verdienen. Vielleicht muss man hier nicht immer nur rechnen, auf welche Kosten man nicht verzichten kann und wieviel Gewinn eine Investition abwirft. Vielleicht kann man hier noch seinen Träumen nachjagen und die Kraft des Loslassens spüren.
Wir gehen in eine Buchhandlung der Altstadt. Zwei Verkaufsetagen, darüber ein riesiger Dachboden, der ebenfalls voll ist mit Büchern. Antiquarische Bücher mit schönen Einbänden, die es nicht mehr zu kaufen gibt und die wahrscheinlich eine Menge Geld wert sind. Ein ganzes Haus voller Bücher in bester Lage mitten in der Altstadt. Und wieder fange ich an zu rechnen. Es sind kaum Kunden dort. Das Geschäft mit den Büchern läuft über das Internet. Gisela erzählt, dass eine Freundin aus New York schon überall nach einem Buch aus ihrer Kindheit gesucht hat. In dieser Buchhandlung in Stralsund hat sie es dann gefunden. Könnte eine solche Buchhandlung, die keine aggressive Werbung macht und nicht auf Kommerz getrimmt ist, in Shanghai überleben? Wie hoch wäre die Miete, wenn man in Shanghai ein so großes Haus mieten würde? Ich glaube kaum, dass ein solcher Laden den harten Konkurrenzkampf in Shanghai überleben könnte.
Als wir den Laden betreten, begrüßt uns die Inhaberin. Durch ihre Brille schaut sie auf den Bildschirm ihres Computers; vielleicht archiviert sie ihre Bestände oder schreibt E-Mails an ihre Kunden. Als wir hereinkommen, schaut sie hoch und lächelt uns an – ein Lächeln, das einfach nur freundlich ist und ehrlich. Denn ja, hier ist Stralsund! Wenn die Menschen, die hier leben nach draußen gehen, sehen sie das Meer. Mir kommt das alles vor wie ein Märchen: Sich nicht immer nur mit all den vielen äußeren Zwängen herumschlagen zu müssen. Sich lang gehegte Träume zu erfüllen. Und Kraft daraus zu schöpfen, dass man nicht angekettet ist.
Ich liebe Shanghai, die Kraft und die Energie, die hier überall spürbar sind. Aber viele beklagen sich auch, über den Stau und die viel zu vollen U-Bahnen, die Immobilienpreise, die im Stadtzentrum bei 20.000 Euro pro Quadratmeter liegen. Wer auf Dauer in Shanghai leben will, verzichtet auf Selbstmitleid und das ewige Gemecker. In meiner Firma sagen wir oft: „Unsere Büros liegen am Nabel der Welt und abends fahren wir zum Wohnen an den Rand des Universums. Montags zahlen wir das Debit auf unseren Kreditkarten zurück, am Dienstag die Hypothek auf die Wohnung und am Mittwoch die Miete. Wir haben so viel zu tun, dass kaum Zeit bleibt, einen Schluck Wasser zu trinken oder auf die Toilette zu gehen. Aber egal, wir fangen gerade erst an und werden nur Erfolg haben, wenn wir durchhalten. Nur wer Erfolg hat, ist ein Held – das ist unser Mantra – und dafür arbeiten wir jeden Tag bis zum Anschlag: Für „Reisig, Reis, Öl und Salz“** in der Kurzzeit – und ein erfülltes Leben in der Langzeitperspektive. Auch mitten in der Nacht brennen in den Bürohochhäusern immer noch unzählige Lampen. Wer in Shanghai lebt, brennt für seinen Job und gibt alles, für ein gutes Leben und die Erfüllung seiner Träume.
Ich blicke voll Bewunderung nach Stralsund und zu den Menschen, die auf diesem schönen Fleckchen Erde leben. Bert, ein Freund Giselas, sagte mir im Bürgergarten: „Es zieht mich jedes Jahr ein paar Mal nach Berlin oder Hamburg, aber immer nur für ein paar Tage, dann will ich wieder zurück nach Stralsund.“ Bert betreibt den „Bürgergarten“, einen Biergarten am Knieperteich, wo immer montags alle Kinder umsonst Tretboot fahren dürfen.
Ich habe mehrere Stralsunder kennengelernt, die aus Weltstädten wie Berlin oder Chicago hierher gezogen sind. Sie alle kannten das schnelle Leben in den großen Metropolen und haben sich dann irgendwann in Stralsund verliebt und sind dort geblieben. Und auch für mich kann ich sagen, dass der blaue Himmel mit seinen schnell ziehenden Wolken, der sich so endlos weit über das glitzernde Meer hinzieht, und die vom Wasser umschlossene Altstadt mit ihrer stimmungsvollen Atmosphäre in mir ein Gefühl von Ruhe und Entspanntheit hervorgerufen haben, wie ich es in Shanghai noch nie erlebt hatte. Es gibt in Stralsund einen ganz besonderen Zauber, der einem dabei hilft, die wahre Natur und die Schönheit des Lebens zu spüren.
Zwei Städte, zehntausend Kilometer voneinander entfernt: Die eine immer geschäftig und um noch mehr Pracht bemüht; die andere schlicht und warm. Die eine lebt für Produktivität und Effizienz; die andere legt den Fokus auf das menschliche Miteinander. Was sie verbindet: In beiden Städten arbeiten die Menschen daran, sich ihre Träume zu verwirklichen. Ich liebe sie alle beide, denn sie ergänzen sich so gut – zwei wichtige Pinselstriche in dem bunten Bild unserer Erde.
Auf Berts Frage: “Wenn es dir doch hier so gut gefällt, warum willst du dann noch zurück nach Shanghai?“ habe ich ihm geantwortet: “Ich muss zurück nach Shanghai, um dort zu arbeiten und genug Geld zu verdienen. Dann komme ich zurück in meinen geheimen Pfirsichblütenhain und können zusammen hier ein soziales Projekt finanzieren.“
So hat jede Stadt ihre eigenen Werte und ihren ganz eigenen Charme. Genießen wir es und machen das Beste aus unserem Leben.
Sharon He, Shanghai 2018
Übersetzung Gisela Reinhold
*Pfirsichblütenhain: Vor langer Zeit entdeckte ein Fischer auf einer Bootsfahrt hinter einem Felsen einen wunderschönen Pfirsichblütenhain. Die Menschen dort waren glücklich und zufrieden und wussten nichts von den Kriegen und den Hungersnöten im Rest des Landes. Pfirsichblütenhain bezeichnet ein idyllisches Fleckchen Erde, auf dem man ein sorgloses Leben führen kann.
**Reisig, Reis, Öl und Salz: Das Chinesische liebt konkrete Bilder – hier das Bild für die notwendigen Dinge des täglichen Lebens
Nachtrag: Inzwischen lernt Sharon, die gut englisch spricht, am Goethe-Institut in Shanghai Deutsch, damit sie bei ihrem nächsten Besuch in Stralsund noch besser mit den Menschen hier kommunizieren kann.