Wünsch‘ Dir Was

Das Fest der Beschenkung naht schon wieder. Weihnachten ist nur noch wenige Wochen entfernt. Der November, also der Monat vor diesem friedlichen und harmoniesüchtigen Jahresausklang, ist für uns Deutsche alles andere als das. Es scheint, als brauche die Gesellschaft zuvor Sturm und Aufruhr. Schon der 9. November spricht hier für sich!

Damit tauche ich in unsere Geschichte ein. Mein eigenes Baujahr bringt es mit sich, dass ich das letzte geschichtlich relevante Ereignis an diesem Kalendertag miterlebte. Ich erinnere mich noch sehr gut. Der 9. November 1989! Manche nennen die Geschehnisse „Die Wende“, ich kann diesem Terminus nicht viel abgewinnen. Der Steuermann war schon verjagt, weder ein neuer noch der zu steuernde Kurs waren danach klar. Die Gesellschaft driftete in unbekannten Strömungen!

Es war der Tag, an dem die Herrschaft eines ideologieversunkenen und gewaltbasierten gesellschaftlichen Systems kapitulieren musste, weil auf der einen Seite der innere Widerstand, friedlich und kraftvoll auf die Straße getragen, übermächtig wurde und auf der anderen Seite die Aufrechterhaltung des Unrechtregimes an dem eigenen Lügengerüst zerbröselte.

Schon Monate vor diesem Tag verließen junge Menschen scharenweise das Land des Unrechts und viele der Bleibenden gingen in die innere Emigration oder waren zum Schweigen verdammt. Andere wiederum, die Aktivisten des Widerstandes, machten sich für Reformen stark, die dem Sozialismus ein menschliches Antlitz verleihen sollten. Man wollte der herrschenden Partei das Machtmonopol entziehen und glaubhaften politischen Alternativen gesellschaftliche Machträume ermöglichen. Eine Vereinigung des geteilten Deutschlands war in keiner denkbaren Nähe.

Geopolitisch wurde der Ostblock zwischen zwei Realitäten eingequetscht. Die Annäherungsbereitschaft des Westens (eingebettet in die OSZE) auf der einen, die wirtschaftliche und soziale Schwäche des Ostens auf der anderen Seite. Sie brachten die Reformen des M. Gorbatschow auf die Agenda. Die Wahrheiten tilgten die Lügen! Kurzum: Der Osten war im Systemrennen am Ende – spätestens erkennbar als Ungarn seine Westgrenze öffnete!

Als Folge davon ging es drunter und drüber. Sämtliche Autoritäten auf der Ostseite brachen in sich zusammen, politische Akteure, alte und neue, stritten um die Konsequenzen und stellten ihre Wunschlisten auf. Im Westen rieb man sich die Augen und hatte alle Hände voll damit zu tun, die Flüchtlinge aus dem Osten unterzubringen und zu versorgen.

Dann kam der Knall! Einem Ostpolitiker namens Schabowski entglitt versehentlich und unmittelbar der Schlüssel des Tores zu jenem abstrusen Bauwerk, das Ostbürger zu Gefangene machte. Man kann sagen: Die Käseglocke, unter der sich der Sozialismus verkrochen hatte, war mit einem Schlage weg. Das war am 9. November! Alle folgenden Entwicklungen liefen mehr oder weniger chaotisch und unter hektischem Treiben in Ost und West ab. Im Westen war man dem Vereinigungsversprechen aus dem Grundgesetz verpflichtet, aber nichts dafür war vorbereitet. Die Ostbürger durften sich etwas wünschen. Nicht Freiheit, nicht Demokratie standen ganz oben auf der Liste! Nein, die D-Mark, eine harte Währung, war es.

So wurde noch vor der Vereinigung beider Teile Deutschlands die D-Mark als Zahlungsmittel eingeführt. Die Nebenwirkungen blieben außen vor.

Nun, Details dazu und den weiteren Verlauf erspare ich mir hier. Heute nennt man die Vorgänge von damals „Friedliche Revolution“ und wundert sich gleichzeitig, dass 32 Jahre danach immer noch keine Vereinigung zustande gekommen ist. Ja, wie denn auch? Wenn in der Folge nur Wunschdenken und Realitätsverweigerung vorherrschen – kein Wunder. Und das trifft auf beide Himmelsrichtungen zu. Im Westen wird der damalige Osten laufend verklärt (u. a. Zitat „Die DDR war kein Unrechtstaat!“) und man verliert die Sicht auf die Gründe und Wirkungen des Ost-West-Konfliktes. Vielerorts im Osten ist der Westen nach wie vor „böse“ und sämtliche Nebenwirkungen der Freiheit werden gar nicht oder nur egoistisch in Anspruch genommen. Und so leben wir immer noch in zwei Welten! Von so manchem gewollt, von vielen übersehen, von wenigen beklagt.

Fazit: Der Osten hat die harte Währung, aber auch Einheit und Freiheit, der Westen hat die Einheit, aber auch eine daniederliegende Wirtschaft, kaputte Städte und darbende Sozialsysteme bekommen. Es scheint, keiner ist damit so richtig glücklich geworden.

Aber ein Wunsch von beiden Seiten ist tatsächlich in Erfüllung gegangen: Der Frieden blieb erhalten! Ein nicht zu überschätzendes Glück! Und auch jeden Preis der unerwünschten Nebenwirkungen wert!

Ingo Küster, 30.10.2022

PS: „Sei vorsichtig mit dem, was du dir wünscht“, Zitat aus „Der Mensch und die Macht“ von Ian Kerschaw, 2022